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Ellis Island in Frankfurt

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Oder: Familienausflug ins Generalkonsulat

Im letzten Sommer war ich zum ersten Mal in New York. Fünf Tage Sightseeing, viele Highlights und ein Ort, der mich sehr berührt hat: Ellis Island – das Tor zur neuen Welt für Tausende von Einwanderern. Man sagt, jeder dritte Amerikaner hätte Vorfahren, die über diese Insel ins Land kamen. Warum erzähle ich euch das jetzt, Monate später? Weil wir für unseren Visa-Antrag vor ein paar Wochen ins amerikanische Generalkonsulat nach Frankfurt reisen mussten und ich mich dort unweigerlich an Ellis Island erinnert fühlte. Das Gebäude, das gesamte Prozedere, alles zeigte Parallelen zu dem, was ich im letzten Sommer auf Ellis Island gehört und gesehen hatte. Im Handumdrehen fühlte ich mich wie ein Bittsteller an der Schwelle des „gelobten Landes“.

Unsere Situation als privilegierte Mitteleuropäer ist natürlich nicht mit derjenigen der Verzweifelten und Verfolgten vor hundert Jahren vergleichbar; aber gerade deswegen hat es mich wohl so sehr getroffen, wie man allein durch ein System von Befragung und Sortierung auf die einfache Tatsache reduziert wird: „Du willst zu uns? Aber wir schauen uns genau an, wer hier rein darf.“

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Through America’s Gate – diese Ausstellung zeigt den Inspektionsprozess für Einwanderer auf Ellis Island

Natürlich hat keiner auf der Treppe heimlich begutachtet, ob einer von uns lahmt oder hinkt (so wie einst auf Ellis Island); keiner hat mit dem Stiefelhaken unsere Augenlider gelupft, um nach Krankheitsanzeichen zu suchen; niemand hat uns Kreidezeichen auf die Jacke gemalt, um uns für die nächste Schlange zu sortieren (das geht heute wahrscheinlich diskreter mit den vielen Stempeln in den Papierbergen). Auch Sprach- oder Intelligenztests musste keiner von uns absolvieren (vielleicht vertraut man auf die Auswahlprozesse deutscher Unternehmen). Aber Abläufe und selbst Architektur sind hüben wie drüben des Atlantiks noch Jahrzehnte später sehr ähnlich. 

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Die Einwanderer wussten nicht, wofür die Markierungen auf ihren Mänteln standen

Beklemmung und Unsicherheit machte sich in mir schon allein beim Anblick des Konsulat-Gebäudes breit: ein Areal mit martialischer Umzäunung, vergitterte Fenster, Schleusentore als einzige Zugänge, Bewaffnete in Uniform. Eine Atmosphäre wie vor einem Hochsicherheitsgefängnis. Man kennt sowas von Bildern, aber Kind 2 – immerhin an der Schwelle zum Teenager – war nicht nur eingeschüchtert, sondern fast ängstlich, weil er fürchtete, er könnte drinnen regelrecht verhört werden. 

Noch vor dem Eingang zum Konsulat beginnt die Politik der langen Schlangen, in die sich jeder einreihen muss, ohne genau zu wissen, was kommt und vor allem wie viele Schalter und weitere Schlangen vor einem liegen. Man wird sortiert, Papiere werden gestempelt, man wird weitergeschickt, manche dahin, andere dorthin. Keiner weiß nach welchen Kriterien. Keiner ahnt, wie lange es dauern wird. Angesichts des Unvorhersehbaren fühlt man sich unwillkürlich ausgeliefert, klein, unwürdig. 

Schlange 1 vor dem Gebäude vor den ersten Schalterfenstern. Eine erste Konsulatsmitarbeiterin begrüßt uns auf Deutsch, prüft die Papiere, klebt Barcodes auf die Pässe, stempelt irgendwas und schickt uns weiter zu Schlange 2, ebenfalls noch vor dem Gebäude, man steht so gut wie auf dem Bürgersteig.  

Am Ende von Schlange 2 ein Sicherheitsbeamter, der uns auf Englisch instruiert, alle Hosen- und Jackentaschen zu leeren, Uhren und Gürtel auszuziehen und alles in Klarsichtbeutel zu verpacken. Außer Handtaschen sind keine Taschen erlaubt, der Gatte war vorbereitet und trägt sowieso alle Papiere in der Hand. Handys haben wir gleich im Hotel gelassen.

Weiter zu Schlange 3 vor dem Eingang. In 5er Gruppen wird man über Lautsprecher auf Englisch aufgefordert ins Gebäude zu gehen. Die Kinder fürchten, von uns getrennt zu werden, aber ein Unsichtbarer hinter einer Spiegelscheibe weiß, dass wir zusammengehören und sortiert die Wartenden entsprechend. Im Gebäude fast schon Erleichterung bei den Kindern, denn dort sieht die Sicherheitskontrolle wie am Flughafen aus. Puh, das kennt man. Plastikbeutel und Handtasche in die Durchleuchtung, Personen durch den Scanner. Ups, ein Problem! In den Tiefen meiner Handtasche findet ein Beamter einen USB-Stick (hach ja, das waren die Familienfotos, die ich eigentlich beim DM für meine dann doch nicht geschriebene Weihnachtspost entwickeln wollte) – Sicherheitsverstoß Nummer 1 – und mein Nasenspray in einer Glasflasche – Sicherheitsverstoß Nummer 2. Beides wird sofort eingezogen, immerhin werde ich nicht rausgeschmissen. Ich bekomme stattdessen sogar ein Garderoben-Zettelchen zum Abholen. Der Göttergatte schüttelt nur den Kopf.

Nächstes Gebäude, nächster Beamter, der überwacht, dass man die Gürtel wieder anzieht und den Plastikbeutel leert (mein Umweltbewusstsein stellt erleichtert fest, dass die Beutel in einer Kiste gesammelt und zur Wiederverwendung nach draußen getragen werden.)

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Die große Halle auf Ellis Island, in der die Ankommenden in langen Reihen auf ihre Befragung warten

Mit unseren Accessoires gerüstet, betreten wir als nächstes eine große Halle, die wie eine Kopie der großen Halle auf Ellis Island aussieht. An zwei Seiten Schalter, der Innenräum mit Absperrbändern in Bahnen unterteilt für weitere Schlangen, ein Wartebereich mit Stühlen am Ende des Saals. Ich gehe davon aus, dass wir früher oder später auch dort hinten sitzen werden, um auf unser Interview zu warten. Wie viele Schlangen, wie viele Schalter liegen zwischen uns und der ersten Sitzgelegenheit des Morgens? Wir haben keine Ahnung.

An der Rezeption der Halle werden wir auf Deutsch angewiesen, in welcher Reihenfolge wir unsere Papiere sortieren sollen. Wer fertig sortiert hat, darf sich – guess what? – an der ersten Schlange anstellen. Schalter 1 – wieder auf Deutsch – Check der Pässe, Check der Papiere, der Mann wird weitergeschickt zum Bezahlen, der Rest der Familie wird befragt: „Haben Sie je einen anderen Namen geführt?“, „Haben die Kinder je einen anderen Namen geführt?“ Der Gatte kommt zurück, alle Familienmitglieder über 14 Jahren müssen sämtliche Fingerabdrücke abliefern. Enttäuschung bei Kind 2, dass es als einziger nicht an den Scanner darf. Nächster Schalter. Dieses Mal auf Englisch: Check der Pässe, Scan der Fingerabdrücke, Zuweisung zu Schalter Nummer 3. Die Moral wird immer mürber. Würde meine Zukunft von diesem Visum abhängen, hätte ich jetzt schon mehrere Schweißausbrüche hinter mir und Dauerherzklopfen. Die Bänke immer noch in weiter Ferne am anderen Ende des Raumes. Wie oft noch anstehen? Wie viele weitere Kontrollen? 

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Der Inspektionsprozess für die Einwanderer auf Ellis Island – damals natürlich nicht transparent für die Ankommenden

Tatsächlich keine einzige mehr, denn der Beamte hinter der nächsten Glasscheibe führt das ominöse Interview, für das wir alle angereist sind. Aber nur mit dem Göttergatten, keine einzige Frage an uns. Im Stehen beantwortet der eine Handvoll Fragen auf Englisch (Was ist Ihre Aufgabe? Können Sie Leute einstellen und entlassen? Wie groß ist Ihr Budget?)… Klack, klack, Stempel. „Sie können gehen, ihre Pässe werden wir Ihnen zuschicken.“ Die Familie schreckt aus der Warte-Lethargie auf. „Wie, das war’s jetzt?“ Die ganze Schalter-Odyssee plötzlich zu Ende und die Frage im Kopf: „Wer darf oder muss dann auf den Bänken dahinten Platz nehmen?“ Es bleibt das beklemmende Gefühl, dass man in dem Prozess doch zu den Privilegierten gehört, die manche Schleife nicht drehen müssen. Wir hasten also aus dem Gebäude, sammeln auf dem Weg nach draußen Mutterns verbotene Gegenstände ein und stehen erleichtert in der Winterluft. Erstaunt, wie schnell ein System aus Schlangestehen und Schaltern uns kleinlaut und demütig macht. Wie muss das erst sein, wenn es um mehr als ein bisschen Expat-Abenteuer geht?

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Karikatur von 1921

Autor

Jonna Struwe, freiberufliche Autorin, Bloggerin und Gründerin von Expatmamas.de, dem Portal für Familien im Ausland

14 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Kann mich auch noch sehr gut daran erinnern und die Gefühle, die damals vorherrschten. Bei der Einreise in die USA kommt dann die zweite Ernüchterung, wenn die Grenzbeamten alle Papiere mit muffiger Miene prüfen, wieder Fingerabdrücke nehmen und ich mich damals nicht sehr willkommen gefühlt habe…..

    Es geht dann also los für Euch alle?!
    Liebe Grüße Nicole

    1. Jonna sagt:

      Da die Visa für die Familie zusammen mit dem Visum für den Expat beantragt werden müssen, haben wir im Januar das „Spiel gespielt“. Der Familienrat tagt im April. :-)

  2. Susan sagt:

    Ohja, wirklich wunderbar zusammengefasst…eine Schalterreise. Die Mitarbeiter_innen habe ich als unglaublich freundlich und zuvorkommend in Erinnerung. Das war wirklich toll. Aber es war eben nicht vorhersehbar, wie lange es dauert, wann man wohin muss und und und. Echt aufregend.

  3. Natascha sagt:

    Oh je, das klingt irgendwie gruselig… und ein wenig demütigend, dass man sich nicht einmal setzen darf. Ich bin froh, dass wir für unser Auslandsabenteuer nicht persönlich im bras. Generalkonsulat erscheinen sondern uns lediglich durch 1 Mio. uneindeutige Formulare quälen mussten.

  4. Rena sagt:

    Hallo Jonna,
    und ich habe auf dem, was du Bürgersteig nennst (es war auch einer) ein privates Foto fürs Familienalbum geschossen. Kam SOFORT ein Beamter und nahm mein Handy an sich, um meine Fotos durchzuklicken. Er stellte Fragen zu meinen privaten Aufnahmen (es waren paar Witz-Bilder dabei) und das Erinnerungsfoto mit dem Konsulat im Hintergrund musste ich natürlich löschen. Ok, es war eine naive Aktion von mir :-)

  5. Vicky sagt:

    Wenn man sich für eine Greencard bewirbt wird man von einem Arzt untersucht. der Arzt muss auch schauen ob man a) generell ok ist, b) Syphilis hat, c) Tuberkulose hat, und d) Ob man geistig behindert ist. Das war vielleicht eine interessante Erfahrung. Doch etwas näher am historischen Ellis Island als die Visa Beantragung

  6. Luise sagt:

    Schön geschrieben, habe mich in der Schlange mit euch mitstehend gefühlt. Bei mir geht die VISA Odyssee für China bald los, an Ostern bin ich für ein paar Tage dort, da werde ich schon mal medizinisch durchgecheckt. Eine Stunde! Hat mein Mann hinter sich und er sagte, dass er sich wie auf Ellis Island gefühlt hat. Das Schwierige war, dass er die Chinesen nicht verstanden hat. Bin gespannt!

    1. Jonna sagt:

      Ich habe schon mehrfach gehört, dass die medizinischen Eingangs-Untersuchungen etwas – sagen wir – speziell sind in China. Und dann noch die Sprachbarriere, die dazu kommt. Ich glaube, das würde bei mir für akuten Bluthochdruck sorgen. Toi, toi, toi für die Osterferien!

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