Vor zehn Jahren bebte in Japan die Erde, gefolgt von einem verheerenden Tsunami und einer noch verheerenderen Reaktorkatastrophe in Fukushima. Lucinde lebte zu diesem Zeitpunkt als Expatmama in Tokio und schildert heute in ihrem Gastbeitrag, wie sie das dreifache Unglück erlebte.
Der Himmel ist blau und nichts, wie es einmal war
Ein Gastbeitrag von Lucinde Hutzenlaub, im Original erschienen in „Hallo Japan – Familie Hutzenlaub wandert aus“
Tokio, 11. März 2011 gegen 14:30 Uhr
Der Himmel ist blau. Und dennoch wird nichts je wieder sein, wie es einmal war.
Es wackelt oft ein bisschen, besonders nachts, aber dieses Mal ist es anders. Es hört nicht auf. Im Gegenteil, es wird immer stärker.
Ich muss raus, raus aus dem Haus. Ich nehme nur das Nötigste mit: Geldbeutel, Handy, eine Flasche Wasser. Draußen besteht die Gefahr, von splitternden Glasscheiben und herabfallenden Kabeln getroffen zu werden. In Japan sind alle Leitungen überirdisch; sie werden auf Pfosten an den Straßen entlanggführt. So viele und so dicht, dass man manchmal kaum den Himmel sieht. Aber die Pfosten halten und die Leitungen bleiben oben. Zum Glück teilen wir uns mit den Nachbarhäusern eine kleine Gemeinschaftswiese, auf der es einigermaßen sicher ist.
Die Erde bebt so stark, dass wir uns auf den Boden setzen müssen. Es ist, als würde man versuchen, in einem Schwimmbad auf einer Luftmatratze zu stehen. Gleichzeitig rechnet man fast damit, dass sich ein riesiger Spalt auftut und alles verschluckt. Man hört das Geschirr in den Häusern aus den Schränken knallen. Mein erster Gedanke:
Bitte lass die Brücke über den Fluss ganz bleiben; das ist die einzige Verkehrsverbindung zu meinem Mann und meinen Kindern.
Es bleibt gespenstisch still, bis die Sirenen einsetzen. Autos stehen kreuz und quer, überall sind Menschen auf den Straßen. Die Telefonleitungen sind zusammengebrochen. Ich kann weder meine Kinder noch meinen Mann erreichen. Ich würde gern meinen Sohn abholen, aber an Auto- oder Fahrradfahren ist nicht zu denken.
Erstaunlicherweise funktioniert das Internet, aber wir erfahren nichts über die genaue Stärke des Bebens oder über die Folgen. Es wird gesagt, dass das Epizentrum vor der Küste der Präfektur Miyagi und somit ungefähr 370 Kilometer nördlich von Tokio läge. Wie stark mag es dort wohl gebebt haben? Wie es wohl in Yokohama aussieht? Besser? Oder vielleicht sogar noch schlimmer?
Irgendwann halte ich es nicht mehr aus. Mit dem Rad, für den Fall, dass die Straßen blockiert sind, fahre ich in Richtung Kindergarten. Ich komme durch. Im Park davor ist die ganze Gruppe versammelt. Die über vierzig Jahre alten, ziemlich heruntergekommenen Gebäude des Olympischen Parks stehen noch, haben aber mächtig geschwankt. Außer mir sind noch einige japanische Mütter angekommen, um ihre Kinder abzuholen. Sie sind unruhig; auch sie haben noch nie so ein starkes Beben erlebt. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir noch nicht, dass es die Stärke 8,9 hatte. Wir schätzen fünf bis sieben.
Unser Rückweg auf dem Rad ist unproblematisch. Alle Straßen und Fahrradwege sind frei, kein Haus auf unserem Weg hat sichtbaren Schaden genommen und alle Bäume stehen noch. Ganz anders ist es downtown. Katrins Mann erzählt bei einem kurzen Telefonat von Bränden, zerstörten Straßen und totalem Chaos. Zu Fuß will er sich von Roppongi nach Hause durchschlagen. Das gelingt ihm erst nach mehreren Versuchen. Die Straßen sind verstopft und der Zugverkehr komplett eingestellt.
Die ersten Tsunami-Warnungen treffen gleichzeitig mit den ersten Tsunami-Bildern ein. Unfassbar. Ich bin wie gelähmt. Zu Hause füllen wir, wie man uns geraten hat, die Badewanne mit Wasser. Sollte die Wasserversorgung ausfallen, hat man auf diese Art und Weise einen gewissen Vorrat zum Trinken, Kochen und für die Klospülung. Das Gas schaltet sich bei Erdbeben sofort von selbst ab, seitdem bei dem großen Erdbeben in Kobe 1995 über dreihundert Brände durch Gaslecks ausgelöst wurden. Mittlerweile ist auch der Strom ausgefallen.
Alles fühlt sich unwirklich an. Es ist unangenehm kalt geworden und nieselt. Keiner möchte draußen sein, aber drinnen fühlen wir uns nicht sicher. Selbst wenn es nicht bebt, schwankt irgendwie alles. Wir zweifeln an unserer Wahrnehmung, glauben aber immer noch völlig naiv, dass wir das schwere Beben überstanden haben und die Welt morgen nach dem Aufräumen schon wieder zu ihrem alten Rhythmus zurückkehren wird.
Mittlerweile ist es 17 Uhr. Langsam wird es dunkel. Die Erde bebt immer noch, manchmal mehr, manchmal weniger. Man sieht es an Wassergläsern, man hört es an den Knirschgeräuschen der Fensterrahmen und man fühlt es in den wackeligen Beinen.
Die ersten Bilder aus den Präfekturen Fukushima, Myagi und Iwate treffen ein, da, wo der Tsunami die japanische Küste am härtesten getroffen hat. Sendais Überflutung schockiert uns. Man sieht zerstörte Küstenstraßen, schwimmende Häuser und unglaubliche Luftbilder einer Flutwelle, die fast wie in Zeitlupe Autos, Schiffe und Unrat ins Landesinnere trägt. Von zwanzig bis dreißig Toten ist bisher die Rede, aber wer die Bilder sieht und weiß, dass die japanische Küste dort aus sehr engen, steilen Buchten besteht, weiß auch, dass diese Zahlen katastrophal steigen werden.
Es ist halb acht Uhr abends. Es wackelt und wackelt. Ein japanischer Freund erzählt später, dass er 15 Stunden vom Flughafen in die Stadt gebraucht hat. Es ist unglaublich, aber alle Wolkenkratzer haben die enormen Schockwellen überstanden. Der neue Fernsehturm Sky Tree, mit 634 Metern der höchste der Welt, hat nur geschwankt, während sich die Antenne des nur halb so großen, alten Fernsehturms Tokio Tower dauerhaft verbogen hat und das Dach der Muza Kawasaki Symphony Hall eingestürzt ist.
Gegen 22 Uhr können die Schulbusse endlich losfahren, begleitet von einigen Lehrern. Erst um drei Uhr morgens werden diese Lehrer wieder in Yokohama sein. Aber Hauptsache, es geht unseren Kindern gut und wir sind alle wieder zusammen.
Am nächsten Tag fühlen wir uns hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch nach Normalität und Panik. Der Himmel ist unschuldig blau und so grotesk es klingen mag, aber wir überlegen uns ernsthaft, den Grill anzuschmeißen. Wir wollen aufräumen, einkaufen, schlafen und so schnell wie möglich wieder zum Alltag zurückkehren. Aber wir lassen es sein, denn die ersten Meldungen über die Folgen des Tsunami in Fukushima erreichen uns.
Die Welle hat die Notstromversorgung der Reaktoren eins bis drei des Atomkraftwerks lahmgelegt und das Kühlwasser verdampft. Der Betreiber TEPCO versucht, mit Meerwasser zu kühlen. Das klingt unglaublich beunruhigend und improvisiert. Der Sicherheitsradius um die Reaktoren beträgt erst zwei Kilometer, dann drei. Am nächsten Tag sollen die Bewohner innerhalb eines Dreißig-Kilometer-Radius evakuiert werden. Allen anderen wird geraten, in ihren Häusern zu bleiben. Ich hätte nie gedacht, dass ich solche Meldungen in einem hoch technisierten Land wie Japan vernehmen würde.
Wir packen vorsichtshalber unsere Rucksäcke und stellen sie vor die Tür. Im Notfall müssen wir innerhalb von Minuten aufbrechen können. Ich versuche zu verstehen, was passiert. Droht eine Kernschmelze? Und was dann? Wird die Regierung tatsächlich versuchen, Tokio zu evakuieren, und wenn ja, wie zum Teufel soll das gehen?
Gegen 14 Uhr kommt die befürchtete Meldung: zwei Explosionen an den Reaktoren eins und drei. Eine Kernschmelze könnte unmittelbar bevorstehen. Die Kühlung des Atomkraftwerkes Fukushima funktioniert nicht mehr. Dann geht alles ganz schnell. Innerhalb von 15 Minuten verlassen wir unsere Häuser, während 260 Kilometer von uns entfernt der Supergau stattfindet. Der Wind treibt glücklicherweise die radioaktiven Partikel auf den Pazifik, aber er könnte innerhalb kürzester Zeit drehen und was dann? Etwas Wasser, ein paar Kekse und Windeln, sowie eine kleine Tasche für jeden passen gerade so noch ins Auto.
Zwei kurze Pausen gönnen wir uns auf dem Weg nach Nagoya, wo es den nächsten internationalen Flughafen gibt.
Plötzlich überkommt mich eine unglaubliche Traurigkeit. Ich habe das Gefühl, Japan zu verlassen, ohne es auch nur ein bisschen kennengelernt zu haben. Ich dachte immer, wir hätten unendlich Zeit dafür.
Wieder wird es hell. Tag zwei nach der Katastrophe ist genauso schön und unwirklich wie der erste. Wieder fragen wir uns, ob wir nicht übertrieben reagieren.
Wir haben nicht geschlafen, nicht gegessen, wir wissen nicht, wie es hier weitergeht. Wir wissen nur, es war die richtige Entscheidung. Die Nachrichten auf der Großbildleinwand aus Tokio und Fukushima sind katastrophal. Alle Firmen haben ihre Mitarbeiter zurückgerufen. Und doch gibt es einige, die bleiben wollen. Müssen. Nicht wegkommen.
Ich mache mir große Sorgen und fühle mich elend, weil ich nichts daran ändern kann. Als wir im Flieger nach Peking sitzen, empfinde ich Erleichterung auf der einen Seite, Angst und Sorge auf der anderen. Zu viele liebe Freunde sind immer noch in Tokio. Außerdem wird mir bewusst, wie sehr ich mein Leben in Japan überhaupt liebe.
Wann wir zurückkehren, weiß keiner. Ob überhaupt. Ob es unser Leben dann noch geben wird. Werden wir alle Menschen, die uns in Tokio ans Herz gewachsen sind, wiedersehen? Unsere Sachen haben? Fotos, Briefe … plötzlich werden Dinge wichtig, die immer selbstverständlich da waren. Was ist mit unseren japanischen Freunden, die niemanden haben, der ihnen Flüge ins Ausland organisiert? Was ist mit all denen, die wir nicht kennen und die nicht so viel Glück hatten wie wir?
Wir beten für alle.
Später lese ich in der Zeitung, dass sich Japan um 2,4 Meter nach Osten und die gesamte Erdachse um 16 Zentimeter verschoben hat. Außerdem hat sich das Trägheitsmoment der Erde so verringert, dass sie sich seit- dem schneller dreht und die Tage um 1,8 Mikrosekunden kürzer geworden sind.
Fast 16.000 Menschen wurden als tot gemeldet, mehrere tausend gelten noch immer als vermisst. 470.000 Menschen mussten in Notunterkünften untergebracht werden. 375.000 Gebäude sind vollständig oder teilweise eingestürzt.
Bis Ende Januar 2012 gibt es in Japan fast sechshundert Beben der Magnitude fünf oder stärker, davon sechs der Magnitude sieben oder stärker. In der Folge der Ereignisse beschließt Japan, alle Kernkraftwerke abzuschalten. Zwei Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima sind wieder zwei von fünfzig Reaktoren in Betrieb und Premierminister Shinzo Abe will leider zur Nutzung der Kernkraft zurückkehren, obwohl noch immer zwei Drittel der Japaner gegen Atomenergie sind und obwohl es immer große Erdbeben in Japan geben wird.
Der Himmel ist blau. Und dennoch wird nichts je wieder sein, wie es einmal war.
Lucinde Hutzenlaub, 1970 in Stuttgart geboren, ist Autorin und Kolumnistin bei der DONNA. Sie lebte von 2009 bis 2012 mit ihrer Familie in Japan, wo auch ihr erstes Buch „Hallo Japan“ entstanden ist. Dieses Kapitel ist ein Auszug aus der Geschichte über Kulturschocks, Fettnäpfchen und Erfolgserlebnisse in der Ferne – und über das schwere Erdbeben von 2011, das die Familie hautnah in Tokio miterlebte. Mehr über die Autorin lest ihr auf lucinde-hutzenlaub.de