Neulich hinter den Blog-Kulissen fragte das Kind:
„Warum brauchst du meine Puppen?“
„Ich möchte ein Foto machen für eine neue Artikel-Serie auf der Website.“
„Worum geht es da?“
„Um Kinder wie dich, die eine Zeit lang im Ausland gelebt haben.“
„Oh, dazu will ich auch was schreiben!“
Und wenn mein Kind das sagt, setzt es sich hin und schreibt. Und ihr könnt euch jetzt hinsetzen und lesen, was es schreibt.
Ein ehemaliges Expat-Kind erzählt
Gastbeitrag einer Zwölfjährigen
Ich bin jetzt zwölf. Als ich fünf Monate alt war, musste mein Vater zum Arbeiten nach England gehen und nahm meine Mutter und mich mit. Dort wurde auch mein Bruder geboren. Und ich möchte euch erzählen, wie ich meine ersten vier Lebensjahre in England empfunden habe und was ich davon mitnehmen kann.
Als meine Familie nach England umzog, war ich ein Baby und konnte natürlich weder Deutsch noch Englisch. Deswegen kann man sagen, dass ich beides gleichzeitig gelernt habe. Ich kann mich noch erinnern, wie lange ich gebraucht habe, um zu verstehen, dass das zwei verschiedene Sprachen sind. Trotzdem ist es mir nie passiert, dass ich plötzlich angefangen habe, im Kindergarten deutsch zu reden oder mit meiner Mama englisch. Die Regel lautete einfach: daheim = deutsch, draußen = englisch. So kam es, dass ich, als wir zurück nach Deutschland zogen, meine Mutter ganz irritiert fragte: „Die sprechen ja ALLE deutsch hier!“
Rückblickend finde ich es ganz schön toll, zwei Sprachen so gut zu können. In der Schule hat mir das geholfen. Ich habe mal gelesen, dass man nur bis zum sechsten Lebensjahr eine Sprache wirklich akzentfrei lernen kann. Da hatte ich also richtig Glück. Außerdem macht es mich unheimlich stolz, wenn jemand meine Aussprache lobt.
Expatleben war für mich normal
Das Expatleben allgemein hat mich nicht im Geringsten gestört. Ich dachte sogar, es wäre völlig normal, und so gut wie alle Kinder hätten ihre Wurzeln in einem anderen Land. Ich war einfach immer so ein Mittelding zwischen zwei Ländern, aber weil das weder mich noch sonst irgendjemanden interessierte, begann ich, mich zu einem Teil als normales englisches Mädchen zu fühlen. Allerdings gab es auch Situationen, da war ich mit den Unterschieden zwischen England und Deutschland überfordert, wie etwa bei Bräuchen. Zum Beispiel: Weihnachten.
In meiner Familie kommt am 24. Dezember abends das Christkind und bringt die Geschenke. In sämtlichen englischen Kinderbüchern, die von Weihnachten handeln, kommt der Weihnachtsmann nachts in einem Schlitten und stopft die Geschenke in einen Strumpf. So einen Christmas stocking besaßen mein Bruder und ich auch, allerdings benutzen wir ihn für Nikolaus. Am 6. Dezember hängten wir unsere Christmas stockings an die Türklinke, damit der Nikolaus dort die Schokolade hineinstecken konnte. Weil der Nikolaus wie Father Christmas auch nachts durch den Schornstein stieg und ich diese beiden dicken, weißbärtigen Gesellen sowieso nicht auseinanderhalten konnte, begann ich mich zu fragen, warum in England der Nikolaus an Weihnachten kam und die Geschenke brachte und warum unser Christkind keinen Rentierschlitten haben durfte und erst recht nicht Rudolf mit der roten Nase. Zur Lösung dieses verzwickten Problems erfand ich für Rudolf eine Schwester namens Ruda, allerdings konnte ich mich nicht entscheiden, wer jetzt wessen Schlitten übernahm. Erst als wir schon lange wieder in Deutschland waren, habe ich die Unterschiede verstanden und das Durcheinander mit dem Geschenkepersonal gelöst.
Als ich vier Jahre alt war, zogen wir zurück nach Deutschland. Ich kam in einen Kindergarten und fand gleich neue Freunde. Aber ich habe nicht verstanden, warum ich auf einmal im Kindergarten bleiben sollte, bis ich sechs Jahre alt sein würde. Sechs, nicht vier! Ich hatte mich schon so gefreut, dass ich schon groß genug für die Schule war, und jetzt kamen da irgendwelche Leute und verlängerten die Kindergartenzeit um zwei Jahre, ohne mich zu fragen!
Allerdings bin ich im Nachhinein froh, dass ich nicht schon in England eingeschult worden bin. Denn am Anfang der ersten Klasse bilden sich Grüppchen, und wenn man sich nicht beeilt, kann man bis zur vierten Klasse keiner dieser Freundesgruppen mehr beitreten. Daher empfehle ich, die Expatzeit auf den Kindergarten zu beschränken, wenn man die Möglichkeit dazu hat.
Englisch fühlt sich schön vertraut an
Inzwischen gehe ich in die achte Klasse. Meine Erinnerungen an England sind zwar nicht mehr sehr deutlich, aber ich habe doch einiges mitgenommen. Ich musste nicht erst lernen, das „th“ auszusprechen, und verstand im Unterricht die englischen Texte schneller. Die Sprache fühlt sich schön vertraut an, auch wenn ich viele Wörter nicht kenne und wie alle anderen auch erst lernen muss. Wenn man anderen erzählen kann, dass man schon mal in einem anderen Land gelebt hat, fühlt sich das so schön exotisch an. Ich glaube nicht, dass ich deswegen anders als andere Kinder hier bin.
Deswegen wird man ja kein anderer Mensch. Ich habe höchstens eine andere Geschichte als meine Klassenkameraden.
Ich bin ein Mensch, der gerne bei anderen anknüpft, ich brauche jemanden zum Andocken und freunde mich schnell an. Mich kümmert es nicht, andere anzusprechen, auch wenn ich sie nicht kenne. Und ich kann bei Leuten gut erkennen, ob sie offen für Freundschaften sind. Ob das was mit England zu tun hat, weiß ich nicht. Ich denke, so bin ich einfach. Aber wenn wir nicht in England gelebt hätten, stünden jetzt nicht all die schönen englischen Kinderbücher in unseren Regalen, die ich immer so geliebt habe.
(Dieser Text ist nicht redigiert – Anm. d.Red)
Ein super schöner Beitrag ist das! Und ganz toll geschrieben. Habe ich sehr gerne gelesen. Unsere Mini ist jetzt 3, geht in die Ecole Maternelle in Frankreich, und ich frage mich auch manchmal wie das wohl alles für sie im Nachhinein sein wird. Ganz lieben Dank für den Erfahrungsbericht!
So schön zu lesen, mit welcher Unbefangenheit ein Kind seine Situation wahrnimmt und erlebt. Sicher ist es leichter ohne Erfahrung, also mehr oder weniger unwissend, unbefangen zu sein. Doch daraus lässt sich schließen, dass ein gewisses lockeres auf sich zukommen lassen, sich als große Hilfe in der Bewältigung des Lebens darstellt.
Wie wundervoll! Vielen Dank für deine Geschichte! Sie hat mir in Bezug auf meinen Sohn und unsere Situation sehr viel Mut gemacht. Lieben Gruß von Sardinien, Christine
Liebe Autorin,
herzlichen Glückwunsch zu diesem gelungenen Debüt-Artikel auf dem Expatmamas-Blog.
Mein Sohn wird drei sein, wenn wir zurück aus den USA kommen. Er wird sich später wahrscheinlich nicht in derselben Klarheit erinnern können wie du. Umso besser, dass man das bei dir lesen kann.
Wie wunderbar du deine Erinnerungen und Eindrücke in Worte fasst. Ganz toll.
Was für ein schöner, toll geschriebener Beitrag! Vielen Dank
[…] Was wichtig ist: Während uns das Andersein unserer Kinder im Ausland sehr bewusst ist, ist es wichtig ist, nicht zu übersehen, dass Third Culture Kids auch nach der Rückkehr nach Deutschland durch ihre besonderen Erfahrungen immer anderes geprägt sein werden; einmal TCK immer TCK – oder wie mein eigenes TCK einst sagte: “Ich habe nur eine andere Geschichte.” […]