Wir mussten mal raus. Die Kinder haben Sommerferien und das wollten wir alle spüren. Das Schuljahr abschließen. Kurz aufatmen. Denn das amerikanische Großstadtleben ist erdrückend geworden.
Corona-Urlaub
Es ist ja schon komisch, was Corona mit einem macht: Da hält man sich inzwischen für wahnwitzig abenteuerlustig, wenn man für 4 Tage in eine Ferienwohnung an einem See fährt, der nur eineinhalb Autostunden von zuhause entfernt ist. Man wischt sicherheitshalber jede Klinke in der Bleibe noch mal ab und schleppt tütenweise Einkäufe mit zum Selberkochen. Nur die ganz Verwegenen verzichten auf das Spülen des sauberen, aber fremden Geschirrs in den Schränken. Die Vorsichtigen überlegen stattdessen, ob sie nicht doch das eigene Kopfkissen hätten mitnehmen sollen…
Aber andererseits macht Corona auch, dass man sich nach 3 Monaten im Hochhausturm wie Bolle freut, auf einer Veranda im Grünen zu sitzen. Und mehr gar nicht will. Sitzen und schauen und morgens zum Bootshaus spazieren und nachmittags schwimmen und abends auf der Veranda Scrabble spielen, vielleicht davor noch eine Runde Federball oder den Schwalben am Steg zuschauen. Herrlich ereignislose Sommertage wie in Büchern.
Zurück im Rapunzelturm
Kaum waren wir aber am Samstag zur Wohnungstür rein, erreichte uns die Wirklichkeit wieder: die Polizei hatte am Vorabend Rayshard Brooks vor einem Schnellrestaurant erschossen, die Polizei-Chefin war zurückgetreten; es war sogar in Deutschland in der Tagesschau. Wieder eine Protestnacht, neu befeuert. Nach Tagen ohne Sirenen fiel das Einschlafen schwer, vor allem Kind 1.
Noch ernüchternder der Morgen danach: Mit dem Kaffee auf dem Sofa fiel mir plötzlich die sprichwörtliche Decke auf den Kopf. So muss sich ein Gefangener nach dem Freigang fühlen. Oder Rapunzel, wenn sie nach kurzer Rettung wieder in den Turm gesperrt würde.
Wieder in der Großstadt zu sein, hat plötzlich sichtbar gemacht, wie belastend das Ausharren im 20. Stock in den letzten Wochen geworden ist. Die Morgenstille auf der Veranda am See, die Vögel und Eichhörnchen in den Bäumen, der Pinienduft … das waren Momente der Entspannung.
Und noch etwas wurde im Laufe des Sonntags deutlich: Wie tiefgreifend der Protest gegen Rassismus hier inzwischen ist. Es geht längst nicht mehr nur um Polizeigewalt, sondern um den alltäglichen Rassismus in allen Lebensbereichen. Auch an unserer Schule.
Ein Statement des Direktors, erst mit halben Auge auf Instagram gelesen, ließ mich aufmerken:
Was war dem vorausgegangen? Ein neuer Instagram-Account Black at AIS, vor zwei Tagen von afro-amerikanischen Schülern unserer Schule ins Leben gerufen, um deutlich zu machen, wie Rassismus im Schulalltag aussieht. Inzwischen sind 73 Testimonials eingegangen. In 3 Tagen! Und es werden stündlich mehr: Sie lesen sich z.B. so:
Ein trauriges, erschütterndes, beschämendes Zeugnis.
Das wird sich nicht einfach über die Ferien aus der Welt schaffen lassen.
Liebe Jonna, ich lese sehr gerne Deine Berichte aus Atlanta, das wollte ich Dir einfach mal zurück melden. Zum einen sind Deine Einblicke in die US Gesellschaft, wie Ihr sie erlebt, total spannend und noch mal ganz anders als das, was man hier in der Tagesschau sieht. Und Deine Schilderungen Eures Alltags und Deiner Gefühlslage finde ich toll und ehrlich, dass Du auch den negativen Seiten und Schwierigkeiten Raum gibst.
Ich lese weiter mit und sende beste Grüße aus Hamburg!
Deine Dagmar
Oh, das freut mich sehr! Solches Feedback bedeutet mir sehr viel! Vielen Dank, liebe Dagmar.
Liebe Jonna,
was für ein bewegender Bericht. Ich kann jedes Deiner Worte voll nachempfinden. Der kurze Moment der frischen Luft und das Gefühl von Freiheit….
Bei uns in Singapur wird morgen das Meiste wieder geöffnet. In Peking die Schulen bereits wieder geschlossen. Wie muss es sein aus der neugewonnenen Freiheit zurück in den goldenen Käfig zu müssen.
Andererseits ist dafür im Moment auch ein kleiner Ausflug an den See das Größte. Wer braucht da eine spektakuläre Reise in die Ferne… Back to the roots.
Deine Vicky