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Wie uns über Nacht die amerikanische Realität einholte

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Als Expat ist man Gast. Und als Gast nimmt man die Verwerfungen im Haushalt des Gastgebers nicht unbedingt auf Anhieb wahr. Beschäftigt mit der eigenen Rolle im unbekannten Sozialgefüge und dem, was man da vorgesetzt bekommt, bleibt kaum ein Blick über den eigenen Tellerrand. Es sei denn, wenn es plötzlich gewaltig scheppert.

Atlanta in Aufruhr

Das bildliche „Scheppern“ hat uns letzten Freitag aus dem Schlaf gerissen und kam als Sirenengeheul daher. Da wir nur einen Steinwurf von der Feuerwache und vom Gouverneurssitz wohnen, gehört das nächtliche Jaulen und Dröhnen für uns zu Atlanta dazu. Gerade am Wochenende. Entweder es brennt oder der Gouverneur kehrt mit seiner Eskorte heim, die präsidial und laut immer die Kreuzung unterm Schlafzimmerfenster blockiert. Man dreht sich rum und versucht, weiter zu schlafen. Aber in dieser Nacht vor einer Woche hörte es nicht auf. 

Ein Blick aus dem Fenster offenbarte nachts um halb 3 Stau in die Innenstadt und Kolonnen von Polizeifahrzeugen. Ein Blick ins Internet erklärte, dass die friedlichen Demonstrationen für George Floyd in Gewalt umgeschlagen waren.

Ich habe das Lesen angefangen und unten schien es allmählich ruhiger zu werden. Bis das Hupen begann. Es war das Warn-Hupen der Plünderer, die 20 Stockwerke tiefer die Boutiquen ausräumten. War irgendwo eine Polizeisirene zu hören, ging das Hupen los, alle sprangen in die Wagen und waren auf und davon. Mehrmals ging das so. Um halb 6 kam wirklich Polizei und sicherte die Überreste. 

Ein Land – zwei Realitäten

Mein Entsetzen in der Nacht war groß. Schlicht, weil ich es nie für möglich gehalten hätte, so etwas mit eigenen Augen zu sehen.

Ich werde seither viel gefragt, ob ich mich noch sicher fühle. 

Ja, ich fühle mich nicht unsicherer als vor einer Woche. Aber ich habe mich hier auch nie so sicher gefühlt wie in Deutschland. Von Anfang an hatte ich ein latentes Unwohlsein beim Gedanken an die Waffennarren, die hier immer wieder zur Selbstjustiz schreiten in Supermärkten, Schulen oder auf offener Straße. Und auch letzten Freitag war meine größte Sorge, dass Schüsse fallen.

Bei Licht betrachtet sind diese Ängste aber Ängste vor zufälliger Gewalt, nicht Angst vor systemischer Gewalt. Und das macht den Unterschied in Amerika zwischen schwarz und weiß.

Dass wir jetzt jede Nacht Ausgangssperre haben, ist für uns eher eine Unbequemlichkeit als ein Risiko. (Wo will man schon in Corona-Zeiten hin?)

Für Menschen, wie unseren Concierge Michael, ist eine Ausgangssperre tatsächlich bedrohlicher. Wenn er nach seiner Schicht bei uns am Empfangstresen kurz vor Mitternacht heimfährt, dann möchte er lieber nicht angehalten werden und Fragen nach dem Woher-Wohin beantworten müssen. Allein. Als Afro-Amerikaner.

Und tagsüber hat sich für uns auch nichts wesentlich geändert. Wenn wir joggen gehen wollen, dann tun wir das einfach. 

Andere können das nicht. Ein Junge, 12 Jahre, der beste Leichtathlet seiner Schule, ein schneller Läufer, kann hier nicht einfach losrennen. Weil er Afro-Amerikaner ist. Er berichtet im Radio, dass er von Anwohnern angehalten wird, warum er denn so rennen würde? Die Frage unterstellt, ein rennender schwarzer Junge kann nur etwas ausgefressen haben.

Spätestens seitdem der Jogger Ahmaud Arbry im Februar hier in Georgia erschossen wurde, muss man sich nicht mehr wundern.

Wir haben unseren Kindern beigebracht: Wenn ihr allein unterwegs seid und ihr euch wegen etwas unsicher fühlt, haltet nach Polizisten Ausschau.

Hier haben afro-amerikanische Eltern mit ihren Kindern „The Talk“ und erklären ihnen, wie sie sich gegenüber der Polizei verhalten müssen, um möglichst unbeschadet aus der Begegnung hervorzugehen. Natürlich gilt das nicht für alle Polizisten, aber eben doch für zu viele.

Der Fisch stinkt vom Kopf

Angst habe ich vor allem, weil hier ein Präsident regiert, dem alles zuzutrauen ist, sogar einen Bürgerkrieg vom Zaun zu brechen. Er hat keine Empathie mit niemandem und ist in meinen Augen das größte Sicherheitsrisiko. 

Mir wird flau, Militär in den Straßen zu sehen, weil in einer Demokratie Militär nichts auf den Straßen verloren haben sollte. 

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Mir wird heiß vor Wut, wenn ich die menschenverachtenden Tweets aus dem Weißen Haus lese; man müsse Hunde auf die Demonstranten hetzen, auf Plünderer schießen.

Die Menschen auf der Straße vertreiben mich nicht aus dem Land. Sondern wie mit den Menschen auf der Straße umgegangen wird an höchster Stelle.

Mut der Verzweiflung 

Ich stelle mir Demonstrieren in einem Land, in dem die Waffen locker sitzen, als eine mutige Sache vor. Und in Corona-Zeiten erst recht. Man ist zwar an der frischen Luft, was der Verdünnung der infektiösen Aerolose sicher hilft, aber man hat nicht sehr viel Abstand, nicht alle tragen Masken und das Parolen skandieren ist wie eine Virenschleuder. In zwei Wochen werden wir wissen, wie hoch der Preis ist.

Aber deswegen himmelschreiende Ungerechtigkeit hinnehmen? Das kann auch nicht die Lösung sein und ich bewundere jeden, der mitmarschiert, der einsteht für seine Überzeugungen, für die in der Verfassung postulierte Gleichheit aller. 

Der Late Show Host Stephen Colbert hat es neulich auf den Punkt gebracht: „The story that has pushed a hundred thousand covid deaths below the fold is America’s pre-existing condition: racism.“ Rassismus ist Amerikas Vorerkrankung. Seit Jahrzehnten. Darüber müssen wir reden.

40 Millionen Arbeitslose durch die Pandemie – wie viele sind davon weiß?
100.000 Tote durch Covid19 – wie viele sind davon weiß?
Jedes Jahr mehrere Hundert Tote in Polizeigewahrsam – wie viele sind davon weiß?

Die Antwort zeigt das Problem: Nicht-weiße Amerikaner sind in allen Fällen überproportional betroffen. 

Was mich im Moment ratlos macht, ist, dass ich keine einfache Antwort sehe.

Das Problem ist so tief verwurzelt, hat so viele Ausprägungen, dass man nicht sagen kann, wenn A oder B erreicht ist, können wir die Demonstrationen beenden. 

Es hat 9 Tage auf der Straße gebraucht, um zu erreichen, dass der Polizist, der George Flyod umgebracht hat, nicht nur wegen Third Degree Murder (in etwa fahrlässige Tötung), sondern Second Degree Murder (entspricht bei uns Totschlag) angeklagt wurde und die drei anderen wegen Beihilfe. 

Ja, es gibt konkrete Forderungen z.B. beim Thema Polizeigewalt, aber es wird am Beispiel Atlanta auch deutlich, wie weit man davon in der Praxis entfernt ist. (Ich bin übrigens als Europäer sprachlos, dass „Erst warnen, dann schießen“ hier nicht Standard ist.)

Aber mir scheint, es geht bei den Protesten auch um so viel mehr. An welchem Punkt wären also Voraussetzungen geschaffen, dass man die Revolution von der Straße in die Politik verlagern kann?

Wird das jetzt Tag für Tag und Nacht für Nacht weiter gehen, bis doch noch die Tragödie geschieht und Schüsse fallen?

Wie kann man ein Land befrieden, wenn der Präsident nicht Frieden, sondern nur erzwungene Ruhe will? 

“Those who make peaceful revolution impossible, will make violent revolution inevitable.“

John F. Kennedy, 13. März 1962

Mehr als zuschauen

Als Expat bin ich Gast. Aber das heißt nicht, dass ich mich in meinem Sessel zurücklehnen kann und zuschaue, wie andere die Scherben zusammenkehren.

Ich habe hier kein Wahlrecht, aber eine Stimme.

Ich kann etwas sagen, wenn ich höre, dass manche an der Schule Basketball „Bimbo-Ball“ nennen.

Ich kann mit meinen Kindern immer wieder reden, wenn sie nach Orientierung fragen.

Ich kann kluge Gedanken anderer zu dem Thema teilen.

Ich kann Buchempfehlungen für Kinder sammeln und hier verlinken.

Und wahrscheinlich noch viel mehr, an das ich heute noch nicht denke.

P.S. Die Gedanken von Expatmama Nadine in Philadelphia lest ihr auf Dorfmama on Tour: Von Emotionen überrollt.

Autor

Jonna Struwe, freiberufliche Autorin, Bloggerin und Gründerin von Expatmamas.de, dem Portal für Familien im Ausland

2 Kommentare Neues Kommentar hinzufügen

  1. Hannes sagt:

    Deine Gedankengänge sind beeindruckend, mutig, und sollten möglichst Viele erreichen. Mit das Beste, was Du bisher verfasst hast. Glückwunsch !!

  2. Irmi sagt:

    Sehr gut aufgearbeitet, sehr gut analysiert, sehr gut all die verschiedenen Aspekte dieses Themas angesprochen – Rassismus muss endlich verschwinden, überall!
    Man spürt deine tiefe Betroffenheit!

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