Hochhausleben ist anonym, sagt man. Ich würde sagen: Stimmt. Außer an Winterabenden. Seit es abends früher dunkel wird (wenn auch nicht so früh wie in Deutschland), bekommen meine Nachbarn ein Gesicht. Zumindest die von Gegenüber.
Das Leben hinter den Kulissen
Die ersten acht Wochen lebte ich in meinem Adlerhorst hinter heruntergelassenen Jalousien, um die gleißende Südsaaten-Sonne etwas zu mildern und die Klima-Anlage nicht heiß laufen zu lassen. Die Nachbarn taten es gleich, so lebte jeder verborgen vor den Blicken des anderen.
Dann kam der Herbst und ich konnte schon vor Sonnenuntergang die Jalousien hochziehen. Auch die Rollos der Nachbarschaft gerieten in Bewegung. Aber sichtbar wurde nur, wer sich auf den Balkon traute, denn die Sonne spiegelt sich tagsüber in den Scheiben.
Erst mit den frühen Abenden wurde das Leben rundherum bemerkbar. Und die Vorweihnachtszeit war fast wie in einem großen Adventskalender zu leben: Jeden Abend gab es ein neues Fenster mit Weihnachtsbaum oder einen weiteren Balkon im Lichterglanz.
Nachbarn
Und mit dem Aufleuchten in den Wohnungen traten die Nachbarn ins Rampenlicht.
Da ist der Typ, der abends gerne vor dem Bildschirm Golfbälle schlägt, und den ich in die Yuppie-Schublade stecke.
Da sind die zwei Jungs, deren Wohnzimmer wie ein Aquarium blau-gün-violett leuchtet, und über die das Kenner-Kind sagt: Typische Gamer-Beleuchtung; das sind zwei You-Tuber.
Da ist die ordentliche Frühaufsteherin, deren Laken im Schlafzimmer jeden Morgen zu einer Uhrzeit so festgezurrt sind, wo unsere Betten noch warmen Haufen gleichen.
Da ist der Neuzugang in der gleichen Etage gegenüber, der das, was bei uns ein Kinderzimmer ist, allein mit einem Fernsehbildschirm möbliert, und den ich deswegen zu den Scheidungsmännern sortiere.
Da sind einige leere Wohnungen, in denen nach einer Besichtigung tagelang das Licht dauerbrennt, entweder aus Nachlässigkeit oder aus Marketinggründen: Seht her, diese schöne Wohnung ist noch frei.
Und das ist die, die das alles sieht und aufschreibt, und die ihr jetzt in die Schublade stecken könnt: Neuzugezogene aus Deutschland, die doch niemanden im Haus wirklich kennt (aber immerhin im Fahrstuhl mit ihnen redet).
P.S.: Einen ganz wunderbaren Text über ihr Hochhausleben in Brasilien hat übrigens Natascha auf ihrem Blog „Zwei Jungs im Gepäck“ geschrieben: Wenn Häuser sprechen könnten.
Deine Hochhausreihe mag ich sehr gern, freue mich auf den nächsten Teil, liebe Jonna.
Danke. :-) Mal schauen, was mir noch so ins Auge sticht. ;-)
Danke für die Erwähnung und sehr amüsanter Text. Bei uns ist es abends übrigens in der alten Wohnung ähnlich spannend gewesen… Jetzt „nur noch“ Natur.